Der Morgen des 08. August war nieselig und kühl. Wir haderten beide mit unserem Mut, die ungewisse Rundreise zu wagen. Wenn der Außenbordmotor an diesem Morgen nur einmal kurz gehustet hätte, wären wir bestimmt umgekehrt. Aber er knatterte verlässlich und die dicken Regenwolken ließen uns unbehelligt vorbei segeln. Wir waren in aller Frühe von Mariehamn aufgebrochen. Mitte August wollen wir in Helsinki sein und damit haben wir nur eine Woche Zeit, um durch die finnische Inselwelt zu segeln. Christian hat unsere Route mitten durch die Schärenlandschaft geplant, damit wir wenigstens im Vorbeifahren möglichst viel von der schönen Landschaft sehen. Er steuerte den Großteil des langen Segeltages, während Miriam warm eingepackt auf der Bank im Cockpit döste. Wie sich herausstellte, ist Mitsegeln das Beste, was man bei einer Erkältung tun kann! Man ist an der frischen Luft und da man ohnehin die meiste Zeit still in die Landschaft gucken würde, ist es ganz einfach, sich die nötige Ruhe zu gönnen. Unser erstes Ziel war das knapp 50 Seemeilen entfernte Karlby. Die Reise dauerte fast 12 Stunden und so schnell schafften wir es nur, weil wir über weite Strecken den Motor mitlaufen ließen. Schon jetzt ein anderes Reisegefühl, denn bisher hatten wir den Motor so wenig wie möglich verwendet und unsere Streckenziele stattdessen an den Wind angepasst. Karlby liegt mitten in einem Labyrinth aus Inselchen und die Anfahrt war magisch. Von weitem wirkte die Inselgruppe massiv, umschlossen von einer undurchdringlichen Steilküste. Erst allmählich trennte sich die Wand in einzelne Felsen und kurz bevor wir vor lauter Felsspalten die Übersicht verloren, wies uns eine Bake die Einfahrt. Ab hier braucht man keine Karte, denn der Weg ist von Richtfeuer markiert. Richtfeuer bestehen aus zwei Schildern (oder Lichtern), die mit einigem horizontalen Abstand zueinander an Land aufgestellt sind. Man ist auf dem richtigen Kurs, wenn man das Unterfeuer (das untere, nähere Schild) und das Oberfeuer (das höhere, fernere Schild) vertikal exakt übereinander stehen sieht. Ansonsten zeigt einem das Unterfeuer, in welche Richtung man den Kurs korrigieren muss: Steht das Unterfeuer beispielsweise rechts vom Oberfeuer, muss man das Schiff nach rechts, nach steuerbord, bewegen. Es ist ein genial einfaches System. Naturgemäß leiten einen die Schilder direkt auf die Küste zu, aber vor jedem nötigen Kurswechsel tauchte seitlich von uns bereits ein neues Richtfeuer auf, das zu rufen schien: „Kuuurrrrs haaaaalteeeeen… Aaaachtung! Neuer Kurs: Zu mir.“
Das letzte Stück des Weges war gesäumt von einem regelrechten Wald aus Spierentonnen; alle paar Meter ragte ein rot-grünes Paar dieser schmalen Stäbe aus dem Wasser. Die Fahrrinne verengte sich auf wenig mehr, als unsere Bootsbreite. Vorsichtig schoben wir uns hindurch und steuerten Luzie mit piepsendem Flachwasseralarm in einen der Liegeplätze am Holzsteg zwischen zwei beruhigend große Yachten. Wir erkundeten zu Fuß die nähere Umgebung um die Hotel- und Hafenanlage. Betagte Hotelgäste spazierten in fröhlich plaudernden Grüppchen über die Stege und verströmten unbeschwerte Urlaubslaune. Kühe kruschpelten im Schilf am gegenüberliegenden Ufer. Mit der Dämmerung kehrte vollkommene Ruhe ein und das Wasser wurde zu einem stillen Spiegel der friedlichen Szenerie.
Am nächsten Morgen legten wir Luzie an den Steg der Tankstelle um, zahlten am Automat und füllten unsere Benzinkanister. Dabei sahen wir zu spät, dass an der Zapfsäule „Petrol only pump 1!!!“ stand. Wir hatten natürlich an Säule 2 getankt. In einiger Entfernung saßen zwei Einheimische auf einer Bank vor einem Geschäft. Sie hatten unser Anlegemanöver beobachtet und gerieten nun wegen unserer ratlosen Gesichter in Sorge. Nach einigem Hin- und Her-Übersetzen verstanden sie das Problem, versicherten uns aber, dass wir Benzin getankt hätten. Das Schild schienen sie vorher noch nie bemerkt zu haben. Wir packten unsere Kanister ein, legten umständlich ab und hofften das Beste.
Die Ausfahrt aus dem Inselgewirr war noch schöner, als die Einfahrt, weil wir wussten, dass wir uns auf die Richtfeuer verlassen konnten. Man musste nun lediglich über die Schulter zurück zu den Markierungen schauen, um auf Kurs zu bleiben. Am Ufer ruhten weiße Kühe und ein Seeadler zog Kreise am Himmel. Wieder bewunderten wir das einsame Haus auf einem der Felsen und freuten uns über die Fasssauna. Kaum hatten wir die Inseln hinter uns gelassen, begann es zu nieseln und wir hörten fernes Gewittergrollen. Beeindruckende Regenwolken türmten sich am Himmel.
Wenig später gerieten wir in den heftigsten Regen der bisherigen Reise. Wir hatten beide gerade unser Regenzeug angezogen und aus Sorge vor Windböen die Segel eingeholt, als uns der Schauer mit aller Heftigkeit erwischte. Die Sicht verschlechterte sich schlagartig und die nahe Steilküste verschwand zeitweise hinter den dichten Regenschleiern. Die Wasseroberfläche um uns schien kalt zu kochen, aufgewühlt von den einschlagenden Tropfen. Man musste das Gesicht aus dem Wind drehen, um im Schutz der Kapuze die Augen offen halten zu können. Umschlossen von Wasser und Wind wurden wir geradezu Teil dieser Naturgewalt, durchgewaschen, durchgepustet und frei. Als sich der Regen für kurze Zeit in einen schmerzhaften Graupelschauer verwandelte, war unser Bedarf allerdings gedeckt. Allmählich lichteten sich die Regenschleier und wir sahen gar nicht weit entfernt eine Yacht mit sonnenbeschienen Segeln vorbeiziehen. Da wollten wir auch hin! Wenig später verwandelte sich der Schauer in Tröpfeln und wir tauchten in den ersehnten Sonnenschein ein. Wir setzten die triefenden Segel und freuten uns darüber, wie trocken wir in unseren Regensachen geblieben waren.
Die restliche Strecke konnten wir größtenteils vor dem Wind segeln und waren auf Schmetterlingskurs schnell genug, um zur Abendessenszeit an der 32 Seemeilen entfernten Insel Jormu anzulegen. Jormu ist ungewohnt flach und weitläufig, ein Traum aus lila Heidekraut und grauem Fels. Der Hafen war bereits gut gefüllt mit überwiegend schwedischen und finnischen Yachten. Direkt am Hafen gibt es ein kleines Heimatmuseum, das leider schon geschlossen hatte, einen Verschlag mit Hühnern, einige winzige Wohnhäuser, ein kleines Restaurant und einen urigen Lebensmittelladen mit Eiern und Beeren und Lamawollsocken von der Insel. Duschen oder WCs gibt es nicht, dafür aber Trockenklos ohne Getier und mit Beleuchtung.
Wir kletterten auf den höchsten Hügel der Insel und warteten unter dem raschelnden Mittsommerbaum auf den Sonnenuntergang. Eine unwirklich große Fähre schob sich in den kleinen Hafen und entließ einige Menschen, die bald darauf mit Fahrrad oder Auto auf der gewundenen Straße zum Ort auf der anderen Seite der Insel fuhren. Nur die Insel-Lamas hätten unser Entzücken noch vergrößern können, aber die ließen sich nicht blicken.
Heute Morgen herrschte Flaute. Früh ablegen hätte uns wenig gebracht, deshalb wanderten wir im frühen Morgenlicht den Weg zur Ortschaft. Alles schlief noch. Wir verweilten ein bisschen an dem alten Friedhof. Christian las die verwitterten Kreuze, auf denen unter den Namen häufig die Berufe der Verstorbenen standen. Lotse stand bei vielen Männernamen, Mutter, Tochter oder Hausfrau bei vielen Frauennamen. Miriam blickte von einer nahen Bank über das Meer und meinte förmlich zu spüren, wie an diesem Ort seit Generationen Menschen Abschied genommen und in der Weite und Beständigkeit des Meeres Trost und neuen Lebensmut gefunden hatten.