Seit einer Woche segeln wir entlang der Küste von Estland nach Südwesten und nähern uns heute unserem Absprungort nach Gotland. Gefühlt haben wir Estland in dieser Zeit nur aus der Ferne gesehen. Die Gewässer vor Estland sind so flach, dass wir mit Luzie meist mehrere Seemeilen Abstand halten mussten. Die herzlichen Begegnungen in den Häfen, die wir anliefen, reihen sich wie Perlen in unsere langen Segeltage mit Blick auf ferne, grün bewaldete Küsten.
Die Gastfreundschaft der Hafenmeister in Estland ist ein Kapitel für sich. Seit Lohusalu wurden wir in den meisten Häfen bereits erwartet. Bald wurde uns klar, dass die Hafenmeister nicht zufällig an der Hafeneinfahrt standen, wenn wir ankamen. Sie teilten ein Hobby: AIS-Kino gucken. Über AIS beobachteten die Hafenmeister den Kurs aller mit entsprechendem Funksystem ausgestatteten Sportboote in ihren Hoheitsgewässern und wussten so mindestens einige Stunden im Voraus, wer zu ihnen unterwegs war, wer irgendwie einen komischen Kurs wählte und wer ärgerlicherweise den Nachbarhafen anlief. Bei uns stellte sich allmählich das Gefühl ein, dass aufmerksame Hafenmeisteraugen über jede unserer Kursänderungen wachten. Sogar weit draußen fühlten wir uns beobachtet. Wir hätten das AIS natürlich einfach ausschalten und von ihren Bildschirmen verschwinden können, aber dieses Gefühl der Anteilnahme und geteilten Freude und eine gewisse Geborgenheit überwog und schon bald wollten wir das nicht mehr missen.
Meist erwartete uns der Hafenmeister an der Hafenmauer, winkte uns zu einem bestimmten Liegeplatz und nahm dort alle Leinen entgegen. Sobald Luzie zur allgemeinen Zufriedenheit ordentlich vertäut war, wurden wir stets gefragt, woher wir kamen (reine Höflichkeit) und wohin wir als nächstes wollten (wissendes Nicken oder lautstarke Verwunderung). Dann wurden wir herzlich willkommen geheißen und eingeladen, sobald wir uns eingerichtet hätten, für die Formalitäten in die Hafenmeisterei zu kommen. Ein weiterer Ausdruck der Gastfreundschaft in Estland ist das Hissen der Nationalflaggen der Gäste. An den Gästestegen wehen stets die Flaggen aller momentan im Hafenbecken vertretenen Nationalitäten. Bei Sonnenuntergang werden sie gewissenhaft eingeholt und bei Sonnenaufgang neu gesetzt.
Highlights der Herzlichkeit waren der Hafenmeister von Lohusalu, der uns in einem Satz mit der Begrüßung die Betriebszeiten der Sauna nannte, der Hafenmeister in Kuivastu (am 20.08.), der uns den Liegeplatz frei wählen ließ, unsere Wahl sehr lobte, und uns in der Hafenmeisteri ein bisschen mit AIS-Kino samt Live-Kommentar schauen ließ, der Hafenmeister von Koiguste (am 21.08.), der uns zum Glück etwas mehr von dem äußerst köstlichen Räucherfisch aufdrängte, den sein Nachbar verkaufte, und uns sehr aus der Patsche half, wie wir gleich noch erzählen müssen. Wir bekamen außerdem immer Benzin, wenn wir es brauchten, auch wenn es keine Tankstelle in der Nähe gab. Und die Häfen waren allesamt gepflegt, sehr sauber und größtenteils ziemlich neu.
Nun aber zu unserer Reise: Am 18.08. brachen wir von Lohusalu nach Dirhami auf. Ein steter Südwind brachte uns schnell voran, sodass wir schon nachmittags im kleinen Hafenbecken von Dirhami anlegten. Wir wanderten über sandige Straßen, durch Wäldchen und stille Siedlungen zum nächsten Supermarkt, der sich als winziges Lädchen entpuppte. Bei unserer Rückkehr trafen wir im Hafenrestaurant ein deutsches Ehepaar, deren Segelyacht schon in Lohusalu neben uns gelegen hatte, und ließen den Tag spontan bei Kaffee und Kuchen ausklingen.
Am nächsten Tag segelten wir in neuer Höchstgeschwindigkeit nach Haapsalu. Der Wind war herrlich und wir genossen die Fahrt sehr. In unserem Geschwindigkeitsrausch erging es uns leider im Hafen von Haapsalu wie manchem Fahranfänger auf der Autobahnausfahrt. Wir bogen ungewollt recht schwungvoll in die Box ein, die zudem ungewohnt passend für unsere Bootslänge und damit ziemlich kurz war. Kaum hatten wir die rückwärtigen Poller passiert, da rumste Luzie schon unelegant vorn gegen den Holzsteg. Luzie passierte nichts, aber unsere Egos trugen leichte Kratzer davon und das weiche Holz des Steges einen Abdruck unserer Bugleiter. Vor allem aber jagten wir mit unserem Manöver der betagten Crew des Nachbarschiffes einen gewaltigen Schrecken ein und störten ihren Frieden nachhaltig. Die offenkundige Missbilligung der Herren machte uns das Bordleben in Haapsalu etwas unbehaglich.
Einige Zeit nach uns legten auch unsere neuen Kuchenbekanntschaften an und wir zogen gemeinsam los, um das Städtchen und die Burganlage zu erkunden. Während die anderen beiden das modern wirkende Burgmuseum besichtigten, begannen wir eine etwas chaotische Baumarktexkursion. Auf einem Sperrholzhaufen in Dirhami hatten wir nämlich das perfekte Holzstück gefunden, um unsere gebrochene Zackenleiste zu reparieren. Nun wollten wir dringend die richtigen Schrauben dazu besorgen, um die Zackenleiste zu montieren und unseren „dritten Steuermann“ endlich wieder in Betrieb nehmen zu können. Es war ein heißer Tag und unsere Schraubensuche artete zu einer Wanderung in entlegene Industriegebiete aus. Nebenbei entdeckten wir zum Glück auch einige wunderschöne Ecken von Haapsalu. Wir freuten uns über entzückende Gässchen und schöne Gärten und nach der beeindruckenden Burganlage begeisterte uns vor allem das Freilicht-Eisenbahnmuseum. Etwas geplättet von den weiten Wegen beendeten wir den Tag weiterhin schraubenlos bei Nudeln mit Tomatensoße. Da uns die Herren von nebenan offensichtlich noch nicht vergeben hatten, verzogen wir uns leise unter Deck.
Am nächsten Morgen, den 20.08., überraschten uns unsere Kuchen-und-Burg-Freunde mit der Nachricht, dass sie umkehren wollten, um ihr Boot in Estland überwintern zu lassen. Wir hörten sie telefonieren und günstige Liegegebühren aushandeln. Nächstes Jahr wollen sie entspannt weitersegeln in diesem schönen Revier, anstatt ihr Schiff jetzt in den wenigen ihnen verbliebenen freien Wochen zurück nach Deutschland zu prügeln. Wir rechneten zum x-ten Mal die uns bevorstehende Route nach und hoffen weiter, dass uns die Zeit tatsächlich noch reichen würde. Dann legten wir winkend ab setzten unsere Reise fort.
Unser nächster Zielort war der Hafen von Kuivastu, knapp 34 Seemeilen entfernt. Es wehte ein kräftiger Wind und wir waren größtenteils mit gerefften Segeln unterwegs. Miriam war nach der Einfahrt in den Hafen mit den Nerven etwas am Ende, weil man direkt an einem Fähranleger vorbei musste und die Fähren für ihren Geschmack viel zu schnell und viel zu nah unterwegs waren. Während wir Luzie für die Nacht vorbereiteten und Abendessen kochten kam ein Stegnachbar herüber und lud uns auf ein Kaltgetränk auf sein Boot ein. Wir verbrachten einen netten Abend auf der wunderschönen Svan „Albert“ mit ihrem Besitzer Joe und seiner Freundin. Sie beschworen uns, dass wir den kleinen Hafen Kõiguste keinesfalls verpassen sollten, er sei so schön gelegen, mit besonders nettem deutschsprachigem Hafenmeister, der den besten Räucherfisch verkaufe.
Also machten wir uns am nächsten Morgen gegen 10 Uhr auf den Weg nach Kõiguste. Es war ein beschwerlicher Segeltag mit drückender Wolkendecke. Der Wind kam entweder von vorn oder gar nicht so recht und unsere Benzinvorräte schwanden dahin. Die letzte Dreiviertelstunde fuhren wir mit unserem Elektromotor und waren sehr froh, dass der Strom auch für unser Anlegemanöver noch ausreichte. Der Hafen war wirklich wunderschön gelegen. Christian saunierte, Miriam entspannte im Boot.
Am nächsten Morgen warteten wir auf den Räucherfisch, der famos schmeckte, und bekamen zusätzlich auch noch Kartoffeln, 9l Benzin und herzliche Abschiedsworte mit auf den Weg. Falls wir etwas bräuchten, sollten wir uns melden, sagte der Hafenmeister, denn er sei gut vernetzt rund um die Küste Estlands. Wir ahnten nicht, wie bald wir auf das Angebot zurück kommen sollten.
Miriam legte elegant ab und steuerte bei herrlichem Sonnenschein, kleiner Welle, gutem Wind und bester Laune in den Tag. Wir waren etwa eine Stunde unterwegs, noch in Sichtweite von Kõiguste und freuten uns über den wunderbaren Segeltag als plötzlich ein harter Schlag das Boot erzittern ließ. „Was tun?“, rief Miriam hilflos, als uns der nächste Schlag traf und in ein grässliches Schaben überging. Wir liefen auf Grund, aber warum? Wohin ausweichen? Christian warf geistesgegenwärtig die Segel auf, um unsere Fahrt zu bremsen. Wenig später waren wir frei, Luzie trieb mit schlagenden Segeln auf dem Wasser. Wir prüften schnell die Karten – keine Untiefen eingezeichnet, 5m tief sollte es hier mindestens sein. Wir starteten den Motor und holten die Segel ein, um uns in möglichst langsamer Fahrt und auf kürzester Strecke in noch tieferes Wasser zu bringen. Miriam prüfte unter Deck die Bilge und alle Schapps. Es war alles trocken. Die Pumpe beförderte etwas Wasser nach draußen, aber das könnten auch ein paar große Wellen der letzten windigen Fahrt gewesen sein oder Regenwasser.
Wir wiederholten die Kontrollen mehrmals und erholten uns allmählich vom ersten Schreck. Ein dramatischer Schaden hätte sich sicher schon bemerkbar gemacht. Luzies Vorbesitzer hatte uns gesagt, eine Albin Vega könne mit Vollgas auf Stein auffahren ohne Schaden zu nehmen. Gerade hatten wir es ausprobiert. Wir hatten dennoch ein mulmiges Gefühl und wollten den Rumpf unbedingt bei nächster Gelegenheit kontrollieren lassen. Christian rief den Hafenmeister von Kõiguste an und erzählte von unserem Unfall und unserem Wunsch, baldmöglichst aus dem Wasser gekrant zu werden. Es war beruhigend, dass nun jemand von unserer Situation wusste und uns auf dem Bildschirm beobachten würde. Der nächste Hafen mit Kran war in Roomassaare. Dort wollte der Hafenmeister uns direkt ankündigen und parallel auch einen befreundeten Taucher kontaktieren. Wir erreichten Roomassaare gegen 19 Uhr und bekamen dank des Hafenmeisters tatsächlich einen Kran-Termin am nächsten Morgen.
Bei heftigem Seitenwind hoben wir Luzie nur gerade so weit aus dem Wasser, wie unbedingt nötig. Ein junger Mitarbeiter aus der benachbarten Werft half uns. Luzie hatte am Kiel einige tiefe Schrammen davon getragen. Unser Helfer fand den Schaden nicht besorgniserregend. Grundberührungen seien überhaupt sehr häufig vor der Küste Estlands, meinte er. Uns taten die Schrammen leid, aber wir waren beruhigt, dass der Vorfall unsere Weiterfahrt wohl nicht verhindern würde.
Nach dem Kranen legten wir uns in den nur 4 Seemeilen entfernten Stadthafen von Kuressaare um. Die Anfahrt führte durch Schilf mit wunderbarem Blick auf eine Burganlage, aber wir konnten die Idylle nur bedingt genießen. Der Grund schien uns jetzt jederzeit bedrohlich nah und der gelegentliche Flachwasseralarm strapazierte unsere Nerven. Natürlich wurden wir vom Hafenmeister gleich zur Rede gestellt, weshalb wir erst heute hier ankamen und was der Abstecher nach Roomassaare sollte. Wir erzählten von der Grundberührung und dem Kranen und zeigten ihm auf der Karte, wo wir unvermutet auf Fels gelaufen waren. Ob und wo wir wohl eine Kartenkorrektur einreichen könnten? Er sah uns verwundert an und erklärte freundlich, dass nur Touristen auf die Idee kämen, über so einen Bereich in Küstennähe zu fahren, da seien natürlich Felsen, Karte hin oder her! Nun, wieder was gelernt.
Bei einem Spaziergang in die bezaubernde Innenstadt kamen wir allmählich wieder in entspannte Urlaubslaune. Wir fanden sogar die passenden Schrauben und konnten unsere Zackenleiste endlich wieder montieren. Die Aussicht, die Pinne darauf unterwegs wieder bei Bedarf schnell ablegen zu können, um die Hände frei zu haben, beschwingte uns sehr. Abends gönnten wir uns ein Essen im Restaurant am Hafen.
Heute vormittag waren wir zum Einkaufen nochmals in der Stadt und brachen gegen halb drei auf nach Mõntu, unserem Absprunghafen nach Gotland. Wir sind aufgeregt und voller Vorfreude, dass wir die lang erwartete große Überfahrt nun endlich antreten werden.