Nach der märchenhaften Insel Jormu war unser nächstes Ziel die finnische Segelhauptstadt Hanko. Vor unserer Abfahrt am Samstagmorgen, den 10. August, warnten uns jedoch unsere Stegnachbarn, dass in Hanko an diesem Wochenende ein Motorbootfestival stattfinden würde. Diesen Trubel wollten wir gern verpassen und setzten deshalb Kurs auf Kasnäs. Der Wind frischte am Vormittag auf und wir konnten große Teile der Strecke segeln. Gegen 17 Uhr erreichten wir den großen Yachthafen bei Kasnäs. Vor der Hafeneinfahrt herrschte reger Betrieb – offenbar fand hier eine Segelregatta statt. Wir schlängelten uns in das Hafenbecken, bogen zuerst falsch in den Dauerliegerbereich ab, motorten zurück und ins nächste Hafenbecken und wurden auch dort verscheucht: Alles reserviert für die Regattateilnehmer. Zuschauer halfen uns schließlich beim Anlegemanöver an der Außenmole. Wir knoteten unser längstes Seil an die einzige freie Heckboje und vertäuten Luzie in einem absurd langen Liegeplatz neben einer großen Yacht. Unser beeindruckendes Nachbarschiff gab uns etwas Windabdeckung, aber alle Boote an der Außenmole wurden von den seitlich einlaufenden Wellen heftig hin und her geworfen. Wilder noch als Luzie und ihre behäbige Nachbarin sahen die leichten Motorboote auf unserer anderen Seite aus, die regelrecht auf den Wellen tanzten.

Wir verbrachten einen unruhigen Abend und eine quälende Nacht. Am nächsten Morgen wussten wir nicht, wie wir ablegen sollten. Der Wind kam genau seitlich und drückte die große Segelyacht gegen Luzie. Unsere Leinen standen so unter Zug, dass die Heckboje untergetaucht war. Bei Böen schob sich das Nachbarschiff über unsere Heckleine. Es regnete und der Wind pfiff beeindruckend über den Hafen. Gegen Mittag sollte es aufklaren und alle schienen darauf zu warten.

Sobald die Böen und der Regen etwas nachließen, legten die ersten Boote ab. Glücklicherweise brachen auch die Motorboote zu unserer rechten Seite auf, sodass wir uns nun zumindest um die keine Sorgen mehr machen mussten, falls unser Manöver nicht gelingen sollte. Unser Plan war, mit vollem Schub zurück zu setzen, um trotz Seitenwind möglichst gerade zurück und möglichst nah neben die Heckboje zu kommen. Wir vermuteten, dass der Knoten, mit dem wir unsere Heckleine an der Boje befestigt hatten, nach der Nacht unter Dauerspannung schwer zu brechen wäre. Um dafür Zeit zu gewinnen, sollte Miriam deshalb, während Christian zurück setzte, die Heckleine nach vorne an den Bug führen und dort möglichst eng befestigen. Danach könnte Luzie hoffentlich nicht mehr auf die Hafenmauer treiben und wir hätten Zeit, den Knoten von der Boje zu lösen. Miriam steckte vorsichtshalber das Segelmesser ein.

„Nach dieser Böe!“, rief Christian nach vorn, „Vorleinen los!“. Vollgas zurück. Luzie kämpfte sich mit heulendem Motor aus dem Windschatten der Nachbaryacht, Miriam schmiss die Vorleinen aufs Deck und eilte zur Heckleine. Die Heckboje tauchte wie erhofft direkt neben Luzie aus dem Wasser auf und Miriam konnte den Knoten noch im Vorbeifahren lösen. Geschafft. Wir winkten erleichtert der Nachbarcrew, die vor ihrem Ablegemanöver genauso nervös wirkte, wie wir es gewesen waren.

Christian gab Schub nach vorne und stellte fest, dass Luzie plötzlich einen merkwürdig starken Drang nach Backbord hatte. Sie ließ sich kaum auf Kurs halten. Der Grund war glücklicherweise schnell gefunden: Offenbar hatte sich beim Zurücksetzen das Originalruderblatt verstellt, das eigentlich durch dicke Muttern in neutraler Position gesichert wird. Mit etwas Gewalt lies es sich in die korrekte Position zurück drücken und fixieren.

Für das nächste Spannungsmoment an diesem windigen und nassen Segeltag sorgten wir durch schlechtes Timing selbst. Von dem Hauptfahrwasser, das nach Westen führte, wollten wir in ein schmales Nebenfahrwasser abbiegen, das zwar zunächst steiler im Wind lag, uns später aber einen günstigeren Kurs versprach. Reichlich spät entschlossen wir uns, dass wir das Großsegel lieber noch im breiten Hauptfahrwasser reffen wollten. Während Christian auf dem Vorschiff mit Winschen und Fallen hantierte und das Großsegel aufrollte, konnte Miriam nur Kurs halten und beobachten, wie wir langsam an unserer Abzweigung vorbeizogen. Kaum war das Segel fixiert, steuerten wir Luzie in den Wind und beobachteten mit Spannung den neuen Kurs. Das erste Tonnenpaar würden wir verfehlen, aber die Untiefen auf unserem Weg dürften uns laut Karte nicht gefährlich werden. Eine angespannte Ewigkeit später bogen wir sicher ins Fahrwasser ein.

Die Fahrwassermarkierungen wiesen uns den Weg zwischen Felsinselchen hindurch und verlangten ständige kleine Kurskorrekturen. Miriam am Steuer und Christian an den Schoten waren wir beide gefordert und machten uns einen Spaß daraus, Luzie so sportlich und präzise wie möglich durch jede Kursänderung zu steuern, mit optimaler Segeleinstellung und in perfektem Timing. Eine größere finnische Segelyacht holte langsam hinter uns auf und da das Fahrwasser sehr eng war, nutzten wir den Windschatten einer hohen Felsinsel, um „rechts ran zu fahren“ und sie vorbei zu lassen. Es war ein verrücktes Gefühl: An der veränderten Kräuselung der Waseroberfläche erkennt man die Windschattengrenze und mit Überqueren dieser Linie verschwand der Druck aus den Segeln, Luzie richtete sich auf und glitt langsam weiter, während die finnische Yacht wenige Meter neben uns mit unverminderter Geschwindigkeit und vollen Segeln vorbei spritzte. „Nice sailing, Luzie!“, winkte uns der Steuermann fröhlich zu. Wir dümpelten noch ein paar ruhige Minuten mit sanft rollenden Segeln durch das glatte Wasser, dann packte uns der Wind wieder und die wilder Fahrt ging weiter.

Das Fahrwasser führte nahe an Hanko vorbei und so begegneten wir doch noch einigen Festival-Teilnehmern. In ihren bunt bemalten, schmalen Booten schossen sie mit donnernden Motoren und hohen Bugwellen an uns vorbei. Leider waren wir seglerisch so gefordert, dass wir unterwegs keine Fotos von diesen verrückten Raketen, anderen schönen Segelbooten und der bezaubernden Landschaft machten.

Nach knapp acht Stunden berauschendem Segelspaß motorten wir vorsichtig durch flaches Wasser auf den nächsten Hafen zu: Predium. Der ausgedehnte Yachthafen verbindet ein ganz in Stege eingebautes Inselchen mit dem von Wald gesäumten Festland. Die meisten Stege waren voll belegt, aber der Hafen wirkte merkwürdig menschenleer. Wir tankten Benzin, legten uns an den Gästesteg, der die kleine Insel mit dem Festland verbindet, und zahlten das geringste Hafengeld der bisherigen Reise: 12 €. Die Hafenmeisterin gab uns den Schlüssel zu einer Saunahütte im Wald, damit wir duschen konnten. Wir sollten ihn nur in knapp 30 Minuten zurück bringen, da sie verständlicherweise in den Feierabend wollte. Die Hütte lag sehr idyllisch, aber aus dem Duschkopf kam nur eiskaltes Wasser. Durchgefroren vom regnerischen Tag, konnten wir uns nicht zu einer Eisdusche überwinden und brachten den Schlüssel etwas enttäuscht zurück. Dass wir unsere Handtücher eingeschlossen hatten, fiel uns erst auf, als die Hafenmeisterin schon fort war. Wir ärgerten uns, dass unsere Handtücher die Abfahrt am nächsten Morgen verzögern würden, wollten aber auch nicht ohne sie los. Am liebsten hätten wir das Schloss geknackt – ohne es zu beschädigen, versteht sich – aber für ein Saunahäuschen und zwei völlig unvorbelastete Einbrecher war die Hütte verdammt gut gesichert.

Wir schienen die einzigen Übernachtungsgäste in der großen Anlage zu sein. Die vielen Boote um uns herum lagen dunkel und still an den von Flutlichtern hell erleuchteten Stegen, das Restaurant war geschlossen, auf dem Parkplatz standen verlassene Autos. Die Einsamkeit hatte etwas beklemmendes, als wären wir die letzten Menschen in dieser stillen Welt. Miriam wanderte über die kleine Insel und beobachtete von den Felsen aus den Mondaufgang, während Christian im Boot las.

Das Geheul einer Motorsense holte uns heute morgen aus dem Schlaf und aus unserer Abgeschiedenheit. Ein Mann in Warnweste metzelte die Wiesenstücke zwischen den parkenden Autos nieder. Dass wir schon lange unterwegs sind, merken wir auch daran, wie bemerkenswert wir an Land arbeitende Menschen finden. Sobald das Hafenbüro besetzt war, holten wir den Saunaschlüssel und mit dessen Hilfe unsere Handtücher aus der unbezwingbaren Waldhütte. Gegen 11 Uhr konnten wir endlich los und folgten dem „small craft track“ der finnischen Seekarten weiter durch die bezaubernde Inselwelt.