Wir sind am Wendepunkt unserer Reise angekommen. Genauer gesagt, waren wir das vorgestern, am 15.08., als wir von Helsinki nach Tallinn segelten. Helsinki war der nördlichste und östlichste Punkt unserer Reise und unser gemeinsames Traumziel. Wenn wir vor unserer Reise nach unserer Route gefragt wurden, kam darin immer Helsinki vor. Wenn die Zeit reicht. Wenn wir so weit kommen.
Am 13.08. war es dann so weit: Mit knapp 40 Seemeilen von Inkoo bis in den Nordhafen der finnischen Hauptstadt lag die letzte Etappe vor Helsinki vor uns. Bei Anreise unter Segeln kann man sich besonders lange vorfreuen. Die ersten Hochhäuser und Türme zeichneten sich schon Stunden vor der Ankunft am Horizont ab. Wir hörten Mark Uwe Klings „Quality Land“, was wir vor einigen Tagen begonnen und der Geräuschkulisse wegen nur an Leichtwindtagen weiterhören konnten, und amüsierten uns prächtig.
Plötzlich ging dann alles ganz schnell. Industrieanlagen und Bürotürme wichen gewaltigen Fährterminals, der Verkehr nahm zu und die Altstadt kam in Sicht. Wir schlängelten uns zwischen den vorgelagerten Festungsinseln durch die engen Fahrwasser, stets bedacht auf möglichst großen Abstand zu den schnellen Fähren und Kreuzfahrtschiffen. An der Einfahrt zum Nordhafen ruhen vier gewaltige Eisbrecher im Sommerschlaf. Dahinter beginnt der Traditionshafen mit eleganten Zwei- und Dreimastern. Wir legten Luzie im Nachbarhafen längsseits an den Steg vor dem Hafenmeisterbüro, um uns einen Liegeplatz zuweisen zu lassen. Die Marina war gut besucht, die meisten Boote schienen aber nicht zu Gast zu sein, sondern dümpelten unbewohnt in ihrem Heimathafen. Das umzäunte Gelände konnte man nur mit einem Zahlencode betreten und verlassen. So gut bewacht, hatten wir uns bisher noch nie gefühlt. Zum ersten Mal auf unserer Reise buchten wir direkt zwei Nächte auf einmal – herrlich so anzukommen. Wir konnten es kaum erwarten, die Stadt zu erkunden, kochten schnell Nudeln mit Tomatensoße und ließen uns dann ziellos durch die Straßen treiben, immer die nächst-schönste Abzweigung nehmend. Wir freuten uns unbändig, tatsächlich angekommen zu sein und darüber, dass wir den ganzen nächsten Tag haben würden, um die Stadt weiter zu erkunden.
Tatsächlich begannen wir unseren Helsinki-Tag etwas schnöde mit einer Koch- und einer Buntwäsche. Man muss die Maschinen nutzen, wo sie stehen. Danach eroberten wir uns Helsinki weiter in unserer Lieblingsmanier: Mehr oder minder gezielt streunend. Wir staunten über den reichen Schmuck in der orthodoxen Uspenski-Kathedrale direkt am Hafen, erklommen die steilen Stufen zum gewaltigen weiß-grünen Dom von Helsinki, schlenderten durch enge Gassen, umrundeten die festungsartige Kirche von Kallio, genossen wunderbare live vorgetragene Klaviermusik in der in Fels geschlagenen Temppeliaukion Kirche und tiefste Stille in der Kamppi-Kapelle. Wir bewunderten das Sibelius-Denkmal, schlenderten durch Wohnviertel, Martkhallen und Parkanlagen.
Wenn wir uns nicht gerade über Helsinki freuten, beherrschte ein Thema unsere Gedanken und Gespräche: Das Wetter. Genauer gesagt, die Windprognosen. Optimal für die weitere Reise wäre, wenn wir am nächsten Tag die etwa 45 Seemeilen Fahrt über den Finnischen Meerbusen nach Tallinn bewältigen würden. Der angekündigte Westwind wäre dafür günstig, allerdings meldete eines der Windmodelle Böen bis zur Stärke 7 (starker Wind). Böen dieser Stärke hatten uns schon einmal zum Umkehren bewogen, als wir von Sassnitz nach Bornholm übersetzen wollten. Andererseits mussten wir damals einen unbequemeren Kurs gegen den Wind nehmen, es lag eine deutlich größere Strecke vor uns, es regnete und die Wellen waren fast doppelt so hoch, als nun gemeldet. Abends beschlossen wir, dass wir die Überfahrt bei den gemeldeten Bedingungen nicht wagen würden, weil wir uns nicht erfahren genug fühlten, um die Lage sicher einschätzen zu können. Umkehren wäre diesmal sehr mühevoll. In all unserer Unerfahrenheit hielten wir uns eine Hintertür offen: Falls alle Wettermodelle am nächsten Morgen maximal noch Böen der Stärke 6 melden, würden wir doch ablegen. Überzeugt, dass die Chancen dafür sehr gering wären, setzten wir das Stadtmuseum, eine Ausflugsfahrt zu den Festungsinseln und ein feines Essen-Gehen auf den Plan für den nächsten Tag.
Am nächsten Morgen meldeten alle Wettermodelle maximal Böen der Stärke 6. Was wir uns am Tag zuvor noch gewünscht hatten, traf uns unverhofft. Schweren Herzens strichen wir das Stadtmuseum, die Festungsinseln und das feine Restaurant, versprachen uns, irgendwann noch einmal herzukommen und legten ab. Abschiedsschmerz verfliegt glücklicherweise schnell, wenn man wieder Wasser und Weite um sich hat, den Wind und die Wellen spürt. Wir waren außerdem schwer gefordert, da der Wind etwas ungünstiger stand, als vorhergesagt, und wir daher möglichst hoch am Wind segeln mussten, um Tallinn erreichen zu können. Großsegel und Genua hatten wir schon beim Aufbruch gerefft, um den Böen weniger Angriffsfläche zu bieten. Starke Böen waren aber gar nicht unser Problem, stattdessen war der Wind beständig stark und flaute nur ab und zu leicht ab. Negativ-Böen sozusagen. Mit dem Abstand zum Festland nahmen auch die Wellen zu und bald erklomm Luzie grün schimmernde Berge um kurz darauf mit fliegender Gischt ins Tal zu sausen. Wir waren wieder einmal froh, dass wir nicht mit Seekrankheit zu kämpfen hatten. Allenfalls etwas flau wurde uns ab und zu.
Zeitweise sah es nicht so aus, als kämen wir hoch genug an den Wind und somit weit genug in den Westen, um Tallinn zu erreichen. Unser Plan-B-Ziel war eine Insel östlich von Tallinn, aber wir konnten uns nicht dazu durchringen, es nicht weiter zu versuchen und sie direkt anzulaufen. Stattdessen kämpften wir stundenlang um Höhe, wobei ein verflixt großer Leuchtturm hartnäckig nah an unserer Ansteuerlinie blieb. Aus der Nähe betrachtet beeindruckte er uns mit seinem gischtumtosten Felsfundament derart, dass wir schlussendlich doch abdrehten und ihn in Lee mit großzügigem Sicherheitsabstand umschifften, wobei wir hart erkämpfte Höhe verloren und merkten, dass uns die Wellen auch unser Plan-B-Ziel nicht leicht machen würden. Auf dem neuen Kurs kamen die Wellen von schräg hinten und schoben so kräftig, dass Christian zeitweise keine Steuerwirkung mehr spürte. Wir fühlten uns mitgespült, wie eine Sturmmöve in der Brandung. Die Wellen und das andauernde Knattern unseres nicht optimal gerefften Großssegels wurde mit der Zeit zum nervlichen Härtetest für uns. Auch bei uns ist wohl wahr, was viele Segler sagen: Das Boot hält so viel mehr aus, als die Crew. Die unfreiwillige Belastungsprobe dieses Segeltages stärkte unser Vertrauen in Luzie enorm.
Gegen Abend drehte der Wind noch einmal günstig, der Zeiger unseres Plotters zitterte endlich über Tallinn und wir erreichten nach insgesamt fast 11 Stunden Fahrt kurz vor Sonnenuntergang den Hafen. Das Hafenbüro war nicht mehr besetzt, aber Stegnachbarn verrieten uns die Türcodes, ohne die wir zwar vom Steg an Land, aber nicht zurück gekommen wären. Zu unserem Entzücken war die Sauna noch warm. Unsere Muskelverspannungen von der Überfahrt schmolzen in der Hitze dahin, während wir durch ein schmales Panorama-Fenster auf die bunt leuchtende Stadt blickten, über der gerade orange und riesig der Vollmond aufging.
Unseren Tallinn-Tag begannen wir früh und wanderten vorbei an Industrieanlagen und düsteren, halb zerfallenen Gefängnisgebäuden Richtung Innenstadt. Kaum tritt man durch das alte Stadttor, findet man sich in bunten, fröhlichen Gassen wieder. In einem netten veganen Café genossen wir Toasts zum Frühstück und einen phantastischen Cappuccino mit aufgeschäumter Mandelmilch. Statt herumzustreunen, vertrauten wir uns diesmal der Führung eines mittelalterlichen Kaufmanns an, der allerlei erheiternde Geschichten auf Lager hatte. Wir erfuhren, dass Tallinn, oder Reval, wie die Stadt früher genannt wurde, von den Dänen unter König Waldemar II auf dem höchsten Hügel der Gegend gegründet worden war. Im unteren Stadtteil nahe am Wasser siedelten sich deutsche Händler an und bald florierte dort der hanseatische Handel. Die Händler gewannen über drei Jahrhunderte so viel Geld und Einfluss, dass sie sich schließlich von der Besteuerung und Herrschaft des dänischen Adels lossagten. Es entstanden zeitweise zwei durch eine Mauer getrennte Stadtteile, wobei die Adeligen den Stadtteil der Händler nur auf Einladung betreten durften.
In Tallinn stehen tatsächlich noch Gebäude aus dieser Zeit, die Geschichte scheint noch greifbar zwischen den Gassen zu hängen. Nicht einmal die Scharen von Mit-Touristen können diesen Zauber brechen. Am frühen Abend schlurften wir erschöpft zurück zum Boot, um die Füße etwas zu entspannen und den Hafenmeister aufzuspüren und für den Liegeplatz zu bezahlen. Danach konnten wir uns zu keiner weiteren Stadtrunde aufraffen. Die Anstrengung der Überfahrt und der lange Helsinki-Tag zuvor machte sich bemerkbar und nach einem kurzen Besuch in einem nahen Burger-Restaurant kippten wir müde und etwas traurig ins Bett. Gern hätten wir noch einen weiteren Tallinn-Tag drangehängt, aber der Wind steht nur für zwei Tage günstig, um von Tallinn aus entlang des finnischen Meerbusen an die Westküste von Estland zu segeln.
Wir sind daher heute Morgen nach Lohusalu aufgebrochen, einem kleinen Hafen 25 Seemeilen westlich von Tallinn. Nach vier Nächten in Hauptstadthäfen freuten wir uns auf ländliche Ruhe. Aber nichts da, es ist schließlich Samstagabend und der Sommer noch nicht vorbei. Direkt neben dem Hafen gibt es eine kleine Bühne. Eine Band aus Schlagzeuger, Gitarrist, Akkordeonspieler, Geiger und Sänger sorgt für Festzeltstimmung (unter freiem Himmel) und eine begeisterte Menge tanzt und schunkelt zur Musik. Wir haben einen Spaziergang zum nahen Sandstrand gemacht. Der helle, feine Sand ist ein besonderer Anblick nach all den Steinen und Felsen in Schweden und Finnland. Dann haben wir uns unter Deck verkrümelt.
Zahlreiche Schwalben umfliegen die Boote. Sie sammeln sich für die Reise in den Süden und treffen damit unsere Stimmung. Es ist Zeit für den Rückweg.