Für die Überfahrt nach Mariehamn war Wind von 3 bis 4 Beaufort aus Südwest gemeldet – genau richtig für einen entspannten Segeltag. Morgens war von dem Wind allerdings noch nichts zu spüren und wir knatterten mit Außenbordmotor aus der Schärenlandschaft hinaus. Nach 1 ½ Stunden konnten wir endlich Segel setzen und ließen die Inseln allmählich hinter uns. Wir überquerten die Finnisch-Schwedische Grenze gegen 13:45 Uhr. Christian tauschte feierlich die Schwedische Gastlandflagge gegen die Flagge von Åland. Die Ålandinseln gehören zu Finnland, sind jedoch eine autonom verwaltete Region. Die Amtssprache ist schwedisch.
Mit dem Wechsel der Flagge sichteten wir Land: Eine schwache dunkle Linie am Horizont voraus. Wenig später verschwamm die Linie wieder, der Horizont rückte näher, dann tauchten wir in Nebel ein. Fröstelnd starrten wir in die weißen Schwaden und tröteten unser Schallsignal. Niemand antwortete uns, kein Motorengeräusch war zu hören und das AIS meldete Einsamkeit. Aber plötzlich tauchte eine Segelyacht direkt hinter uns auf. Sie zog langsam und nah vorbei und aus dem Cockpit lachten uns eine Frau und ein Mann an. Bald darauf verschwammen sie wie ein Geisterschiff im Dunst voraus. Bemerkenswert, wie man auf weiter, freier Fläche ohne Sicht das scheinbar einzige andere Boot trifft.
Kurz vor der Einfahrt zwischen die Inseln vor Mariehamn lichtete sich der Nebel wieder. Zum Glück, denn hier kamen uns in relativ engen Fahrwassern ziemlich große Fähren entgegen. Wie bunt bemalte Berge tauchten sie hinter den Felsen auf und schoben sich wenig später wummernd an uns vorbei. Auch wir hatten unser Knatterli an. Mit dem Nebel war auch der Wind verschwunden. Merkwürdigerweise war uns der Außenborder zunächst ein paar Mal ausgegangen. Wir konnten keine Ursache erkennen und lauschten deshalb unruhig auf seine Geräusche. Später wurde uns klar, dass wir dem Motor vermutlich die Luftzufuhr abgeschnürt hatten. Von unserer Gefriertüten-Küchengummi-Konstruktion, die seit der Überfahrt nach Hanö den verlorenen Tankdeckel ersetzte, hatte sich unterwegs das Küchengummi verabschiedet und wir hatten uns zu einer deutlich belastbareren Gefriertüten-Haargummi-Konstruktion weiterentwickelt. Das stärkere Gummiband ließ wahrscheinlich nicht mehr ausreichend Luft in den Tank.
Vorbei an großen Fähranlegern, einer gewaltigen Baustelle für weitere Terminals und einem schönen Traditionssegler fuhren wir in die weitläufige Stadtmarina ein.
In Mariehamn blieben wir zwei Nächte, aber wir sahen ungewöhnlich wenig von der Stadt. Das lag daran, dass Miriam sich erkältet hatte und die meiste Zeit schlief und Christian die meiste Zeit recherchierte, plante und rechnete. Unsere Reiseroute war auf einmal noch unsicherer, als bisher.
Zuletzt wollten wir etwa zwei Wochen in den Ålands verbringen, dann zurück nach Schweden segeln und in weiteren kleinen Tagestouren durch die Schären und entlang der Küste zurück Richtung Deutschland reisen; vielleicht mit Abstecher nach Dänemark. Aber auf der Überfahrt nach Mariehamn war uns klar geworden, dass wir theoretisch noch immer die Möglichkeit hätten, doch noch Helsinki und Tallinn zu sehen. Die Öland-Gotland-Estland-Finnland-Route ließe sich auch umgekehrt segeln! Rundreise, statt Hin und Her. Unser Traumziel Helsinki doch noch erreichen. Zwei weitere Länder entdecken. Aber auch eine deutlich größere Distanz in der gleichen Zeit. Kein gemütliches Insel-Hopping, sondern lange Segeltage. Es stünden uns auf dieser Route noch drei große Überfahrten bevor, eine davon (von Estland nach Gotland) so groß, dass wir sie nicht an einem Tag schaffen würden. Bei dieser Überfahrt und der Fahrt von Gotland nach Öland müssten wir rein statistisch eher mit Gegenwind rechnen. Die vorwiegenden Westwinde sind auch der Grund, weshalb wir (wie viele andere) die Route ursprünglich anders herum geplant hatten. Zum ersten Mal auf unserer Reise waren wir uns über den liebsten weiteren Verlauf uneinig. Miriam war für die Rundreise. „Abenteuer und Herausforderung“, wie sie begeistert vom Sofa krächzte, um kurz darauf wieder einzudösen. Christian war für die Rückreise über Schweden, einfach Urlaub machen, Zeit für Landerkundungstouren, den Sommer genießen.
Christians Berechnungen ergaben, dass die Rundreise in der verbliebenen Zeit tatsächlich machbar sein müsste. Bei fünf Segeltagen pro Woche müssten wir je Reisetag ca. 30 Seemeilen zurücklegen. Bisher hatten wir im Mittel pro Reisetag knapp 20 Seemeilen gemacht; eine Herausforderung also, aber nicht unmöglich. Mit je einem Landtag in Helsinki und Tallinn blieben uns in den nächsten sieben Wochen zwölf Tage Puffer, um notfalls auf günstigen Wind zu warten oder Stürme auszusitzen.
Die Rückreise über Schweden dagegen wäre etwa 500 Seemeilen kürzer und überwiegend gut geschützt nahe der Küste. Allerdings müssten wir auf dieser Route wahrscheinlich schon in drei Tagen von Åland nach Schweden zurück segeln, denn für die Zeit danach kündigte sich starker Westwind an. Der würde uns auf dem Rückweg nach Schweden entgegenstehen, oder uns in rauschender Fahrt nach Helsinki pusten. Genau solche Windverhältnisse könnte uns in Estland festsetzen. Statistisch ist das nicht unwahrscheinlich, aber in unseren zwölf Puffer-Tagen gar kein passendes Wetterfenster zu erwischen – dazu würde schon Pech gehören.
Die gesicherten Fakten waren, wie so oft auf unserer Reise, zu dürftig für eine gut begründete Entscheidung. Wir überlegten, wie es uns jeweils mit den möglichen Konsequenzen gehen würde. Würden wir die Rundreise genießen können, wenn die größte Überfahrt und damit das wichtigste Wetterfenster bis zum Schluss unklar wäre? Wäre andererseits das Insel-Hopping entlang der schwedischen Küste so genüsslich, wie erhofft, wenn wir damit schon in drei Tagen gefühlt auf dem Rückweg wären? Welche Entscheidung würden wir mehr bereuen, über welche würden wir uns mehr freuen, was könnte schlimmstenfalls und bestenfalls passieren? Wir träumten uns probeweise in die jeweils andere Lieblingsroute, bis Miriam sich durchaus vorstellen konnte, dass wir genüssliche und unbeschwerte Schweden-Schären-Tage vor uns haben könnten und Christian die Abenteuerlust für die Helsinki-Tallinn-Runde packte.
„Lass uns morgen früh Richtung Helsinki aufbrechen.“, entschied Christian schließlich. „Wir hatten bisher immer Glück.“