Es ist Mittag, halb zwei, die Sonne steht hoch am hellblauen Sommerhimmel und scheint erbarmungslos auf uns herunter. Nur der leichte Fahrtwind macht die Hitze einigermaßen erträglich. Wir sind seit 2 ½ Stunden unterwegs und wechseln uns an der Pinne ab. Wer nicht steuert, erholt sich am einzigen Schattenplatz an Bord – unter Deck. Eben haben wir nach zweistündiger Motorfahrt durch betonntes Fahrwasser endlich einen guten Winkel zum Wind erreicht und Segel gesetzt. Es ist immer wieder beglückend, wenn das Boot sich in den Wind legt, man den Motor ausschaltet und mit unverminderter Geschwindigkeit weiter gleitet. Statt Knattern und Wummern hört man das Wasser vorbeirauschen, die Wellen platschen und das Boot leise knarzen.
Wir sind noch unschlüssig, wo wir heute Abend anlegen wollen. Die letzten zwei Nächte haben wir an Felsen festgemacht und es sehr genossen, kein Marina-Gewusel um uns herum zu haben. Allmählich wäre ein Hafen nützlich, um die Batterien unseres Elektromotors zu laden, die Gemüse- und Obstvorräte aufzufüllen und eine Süßwasserdusche zu nehmen. Auf Marina-Gewusel haben wir trotzdem keine Lust und es locken so viele schöne Inselchen und Buchten…
Einsam sind die Inselchen hier allerdings keineswegs. Vorgestern hatten wir uns eine geschützte Bucht zwischen kleinen Inseln herausgesucht und konnten dort gerade noch einen einigermaßen guten Platz zwischen zwei schwedischen Segelschiffen ergattern. Es war wieder ein aufregendes Anlegemanöver, weil das Ufer statt von gut betretbaren Felsen nur von unregelmäßigen Steinen, Gestrüpp und Blumen gesäumt war. Nach einigem Hin und Her lag unsere Backbord-Vorleine um einen größeren Felsbrocken und unsere Steuerbord-Vorleine um den Stamm einer kleinen, vom Wind zerzausten und vom kargen Boden kaum genährten Kiefer. Von dem Inselchen, an dem wir festgemacht hatten, konnten wir nur ein kleines Felsplateau erkunden. Der Rest war mit undurchdringlichem, dornigem Gestrüpp bewachsen. Neben dem Boot spiegelten sich Steine und Blumen im glatten Wasser und wir fühlten uns an einen Alpensee versetzt. Passend dazu trieben uns schon bald die Mückenschwärme unter Deck. Wir hatten das Projekt „Fliegengitter anbringen“ noch nicht begonnen und verrammelten deshalb alle Luken.
Trotz der verschlossenen Luken schliefen wir beide wunderbar, bis ein heftiger Knall uns gegen 5 Uhr von der Matratze auffahren ließ. Miriam dachte: „Oh nein, wir sind auf die Steine getrieben!“, Chrisitan dachte: „Eine Heckleine ist gerissen! Häh, aber wir haben doch gar keine gespannt?!“. Im nächsten Moment wurde Miriam klar: „Ahh, alles gut. Der Kefir ist nur explodiert.“
Wir haben eine Wasserkefir-Kultur mit auf die Reise genommen. Angesetzt in Zuckerwasser mit ein paar Trockenfrüchten und etwas Zitrone, produzieren diese Bakterien-Hefe-Kristalle innerhalb von 48 Stunden ein erfrischendes, sprudelndes, zuckerarmes und angeblich sogar recht gesundes Getränk. Kefirkulturen sind sehr reisefreudig; je bewegter ihr Dasein, umso besser klappt der Stoffwechsel und umso mehr Kohlensäure wird produziert. Wir hatten den Kefir in einer dichten Trinkflasche angesetzt und „lüfteten“ regelmäßig den Deckel. Inzwischen war es der vierte Ansatz unterwegs. Wenn man zwischen den Lüftungen zu viel Zeit verstreichen ließ, ploppte einem der Deckel schon mal mit einem lauten Knall entgegen. Bei noch mehr Überdruck platzt offenbar der Flaschenboden, interessanterweise spiralförmig. Blöd nur, das so früh morgens herauszufinden. Die Kefirkulturen waren aus der Flasche geschleudert worden und ein Großteil der klebrigen Nährlösung hatte sich in unsere Ablage über der Backbordbank ergossen, über Sonnencremetuben, Ladegeräte, Fernglas, Bücher und Zettel… Nach der Putzaktion krabbelten wir noch einmal ins Bett, schworen dem Kefir ab und arrangierten uns mit der ersten Planänderung des Tages – deutlich später ablegen, als ursprünglich geplant.
Trotz des verspäteten Aufbruchs schafften wir gestern immerhin noch knapp 19 Seemeilen zu einer verwunschenen kleinen Bucht bei der Insel Spårö. Dort legten wir als letztes Boot in einer Reihe von vier deutschen Segelbooten an und hämmerten zum ersten Mal einen unserer Schärenanker in eine Felsspalte. Streng genommen hämmerten wir unsere beiden Schärenanker mehrmals in verschiedene Felsspalten, bis einer der beiden endlich hielt. Die zweite Vorleine konnten wir um einen großen Felsbrocken legen. Wir waren erschöpft von der Sommerhitze und vom Lärm unseres Außenborders. Der schwache Wind hatte nicht für ausreichend Fahrt und kaum für Kühlung gesorgt. Die Stimmung auf den anderen Booten war dafür umso ausgelassener. Merkwürdig, nur Deutsch um sich zu hören. Vom Alpensee plötzlich nach Mallorca versetzt.
Motorboot-Armada
Unterwegs kam plötzlich eine regelrechte Flotte aus Motorbooten auf uns zu; offenbar ein Ausflug eines größeren Motorbootclubs.
Wir nahmen das erste ausgiebige Bad in der Ostsee. Warme 23 °C Wassertemperatur zeigte unser Tiefenmesser an. Herrlich erfrischend! Im Anschluss kochte Christian ein leckeres Abendessen. Während die Sonne hinter den Felsen verschwand und die Schatten länger wurden, nähte Miriam fieberhaft an einer provisorischen Fliegengitter-Haube für unsere Vorschiffluke und schwelgte in dem seit Reisebeginn fast vergessenen Gefühl, unter enger Zeitvorgabe eine funktionale Lösung schaffen zu wollen. Funktional wurde es, ästhetisch nicht gerade.
Miriam wollte nach dem Essen unbedingt noch zu der Bake auf der gegenüberliegenden Insel wandern, von der aus man laut Törnführer einen phantastischen Ausblick über die Schärenlandschaft haben soll. Einige Felsbrocken und lose Steine verbinden die beiden Inseln und hinter dieser „Brücke“ beginnt ein mit roten Punkten gekennzeichneter Trampelpfad, der zum Turm führt. Leider schwand das Licht zwischen den Bäumen rasch und wir mussten einsehen, dass es für den Aufstieg schon zu spät war. Mit Blick durch die offene Dachluke in den tiefblauen Himmel und unbehelligt von den Mückenschwärmen, schlummerten wir ein.
Das Beste am Ankern und Felsliegen ist das Aufwachen mitten in der Natur, das veränderte, frische Licht, die Stille und das spiegelglatte Wasser. Bei den Sanitäranlagen muss man Abstriche machen. Auf manchen Schären gibt es Toiletten. So auch hier: Ein TC, ein Trockenklosett. Das ist eine Holzhütte ohne Licht und ohne Wasseranschluss, dafür mit allerlei Getier und einem großen Eimer. Hebt man den Deckel, blickt man auf eine unschuldig normal wirkende Klobrille. Und am besten, man schaut einfach nicht hindurch. In der Luxusvariante gibt es Klopapier und jeder kippt duftende Holzspäne auf seine Hinterlassenschaften. Ob die Kombination auch duftet, finden wir fraglich, aber angeblich helfen die Späne. Auf unserer Insel gab es die schmucklose Variante, also eigentlich kein TC, sondern nur ein C, finden wir.
Nach dem Frühstück machten wir uns doch noch auf die gestern begonnene Wanderung und kletterten über Felsen und Wurzeln zum Turm hinauf. Der Weg war zauberhaft und die Aussicht wie versprochen grandios. Nach der Rückkehr planschten wir noch einmal im klaren Wasser der Bucht und ließen uns von Sonne und Wind trocknen. Besser kann der Tag kaum beginnen.
Spårö Liegeplatz
Zusammen mit drei weiteren deutschen Booten teilten wir uns diesen tollen Schärenplatz
Spårö Spiegelung
Die Bucht liegt sehr geschützt, was zu wirklich spiegelglattem Wasser führt. (Man beachte die Kräuselung am Himmel 😉 ).
Spårö Wanderweg
Ein kleiner Trampelpfad führt über die Insel zu der Spårö Bake: Einfach immer den Schildern und Punkten folgen.
Spårö Bake
Die Bake von Spårö ist weithin sichtbar und dient schon seit 1680 als Schifffahrtszeichen.
Nachtrag vom 27.07.2019
Unsere Unentschlossenheit über unseren nächsten Anlaufpunkt nach dem Aufbruch von Spårö führte noch unterwegs zu einigem Hin und Her. Schließlich entschieden wir uns für den Hafen Gryts Varv, hauptsächlich um die Motorbatterien laden und einen Benzinkanister auffüllen zu können. Dort machten wir an einem Steg direkt vor der gut besuchten Terrasse eines Hotels fest. Das Hafengeld bezahlt man in der edel eingerichteten Lobby, die Sanitäranlagen für Segler befinden sich in einem kaum geputzten Schuppen hinter dem Haus. Gryts Varv würden wir nicht als schönen Hafen empfehlen, aber die Anfahrt führt durch eine entzückende Schärenlandschaft und auch der Blick vom Steg über das Wasser und bewaldete Ufer ist wunderhübsch. Wir kochten, aßen, reinigten und füllten unseren Wassertank, freuten uns über die lange Dämmerung – und vergaßen leider, ein Foto zu machen. Als wir gegen 23 Uhr schlafen gingen, schimmerte der Horizont noch immer warm rot.
Das gleiche besondere Abendlicht herrscht inzwischen auch heute, Samstagabend. Heute Morgen sind wir nach einer schnellen Dusche und kurzer Törnplanung früh von Gryts Varv aufgebrochen. Für den Abend waren heftige Böen gemeldet, daher wollten wir eine weitere Nacht in einem Hafen verbringen und entschieden uns für das etwa 25 Seemeilen entfernte Arkösund. Die Strecke führte teilweise durch enge Fahrwasser zwischen Felsen hindurch, aber wir konnten endlich wieder viel segeln. Heftige Böen und unberechenbare Winddreher zwischen den Inseln machten die Fahrt abenteuerlich und abwechslungsreich. Wir kamen erschöpft und von der Sonne durchgebraten gegen 18:30 Uhr im Hafen an. Ein freundlicher Stegnachbar half uns beim Anlegemanöver mit Muringleine, das uns mit heftigen seitlichen Böen nicht gerade elegant, aber wenigstens ohne Schramme gelang. Der Hafen liegt voller sehr ähnlich gebauter Motoryachten, die uns von unterwegs bekannt vorkommen. Sie haben sich offenbar zu einem Klassentreffen versammelt und ihre Eigentümer feiern mittlerweile bei fetziger Salsamusik in einem Hotel in der Nähe. Wir staunen vom Steg aus ihre Yachten an und freuen uns, wie unsere Luzie zwischen all dem Komfort und Luxus in ihrer glanzlosen Seetüchtigkeit ruht. Vor allem wird uns klar, dass sie inzwischen ganz unser Zuhause geworden ist.