Wir sind in Fårösund auf Gotland und hinter uns liegt ein weiteres lang erwartetes Highlight unserer Reise. Wir sind dankbar und glücklich, dass die Überfahrt von Estland nach Schweden so gut geklappt hat.

Unseren Absprunghafen Mõntu haben wir nur im Dämmerlicht gesehen. Wir hatten dorthin weite Strecken segeln können und die Anfahrt bei untergehender Sonne und aufflammenden Richtfeuern sehr genossen. Wir legten um 20:20 Uhr an und waren dem Hafenmeister dankbar, der uns natürlich herannahen gesehen hatte und extra länger im Dienst geblieben war. Da die Tankstelle defekt war, versorgte er uns mit 4l Benzin aus seinem eigenen Auto für günstige 5 €. Damit waren unsere Reservekanister wieder ganz voll und das gab uns ein beruhigendes Gefühl für die Überfahrt.

Trotzdem schliefen wir vor Aufregung unruhig in dieser Nacht und waren morgens schon vor dem Wecker wach. Es war schwacher Südostwind gemeldet, nachts drehend auf Südwest, mittags Flaute. Uns war wenig Wind deutlich lieber, als starker Wind. Gleichzeitig wollten wir so viel wie möglich segeln, denn wenn wir die ganze Strecke mit unserem Außenbordmotor fahren müssten, wären wir vermutlich mit den Nerven am Ende, noch bevor uns das Benzin ausgehen würde.

Wir brachen um 8 Uhr auf und setzten hoffnungsvoll Segel, gaben den Versuch jedoch eine halbe Stunde später schon wieder auf. Es war einfach zu wenig Wind und so blieb es auch bis nachmittags. Mit einer Mischung aus Besorgnis und Neid beobachteten wir die drei anderen Segelboote, die mit uns aufgebrochen waren. Während wir auf direktem Weg ins tiefe Wasser fuhren und damit einen größeren Umweg in Kauf nahmen, fuhren sie auf direktem Weg nach Gotland, nah an der Küste Estlands vorbei. Entweder sie waren äußerst ortskundig oder sie besaßen einen Senkkiel und ungetrübtes Vertrauen in die Estnischen Seekarten. Nun, was bedeuteten schon ein paar Stunden kürzere Reisezeit, wenn man mehr als einen ganzen Tag unterwegs war, trösteten wir uns. Es war ein wunderbares Gefühl, so durch den Tag zu fahren und zu wissen, dass man nichts mehr anderes vor hatte heute. Keinen Zielhafen, nur segeln.
Miriam hatte einem Moment ganz besonders entgegen gefiebert: Dem Moment, wenn die Küsten Estlands nicht mehr zu sehen wären und zum ersten Mal in ihrem Leben nur Wasser um sie herum war. Wie würde sich das anfühlen? Christian hatte das schon einmal erlebt, aber keine besondere Erinnerung daran. Als Christian „Es ist so weit!“ sagte, und hinter sich deutete, stand Miriam auf und sah sich nach allen Seiten um. In alle Richtungen Wasser, darüber der blaue Himmel. „Und?“, fragte Christian. „Mh, ich hatte mir ganz viel Weite vorgestellt und Freiheit! Aber stattdessen fühlt es sich… gemütlich an. Sicher. Die Welt ist jetzt so einfach.“, meinte sie lächelnd. „Als würden wir in der Mitte einer großen, blauen Glaskugel schaukeln.“

Gegen 15:30 Uhr konnten wir unseren Motor abschalten und Schmetterlingskurs segeln. Die Stille war eine Wohltat. Ab 18 Uhr schalteten wir den Motor wieder an, da wir unter Segel unsere selbst gesetzte mindest-Reisegeschwindigkeit von drei Knoten nicht mehr schafften, und begannen mit unserem Schichtplan für die Nacht. Miriam übernahm die erste Schicht am Steuer, aber Christian war es zum Schlafen noch zu früh. Als Christian um 20 Uhr übernahm, wollte auch Miriam noch nicht unter Deck ausruhen, denn das Abendlicht war zu wundervoll. Gemeinsam genossen wir noch eine Weile den Sonnenuntergang und schalteten Luzies Positionslichter und das Toplicht an der Mastspitze an. Dann legte sich Miriam noch eine Weile unter Deck, um Schlaf vor zu holen. Zum Ausruhen legten wir uns in dieser Nacht auf die Bank im Vorschiff, Stiefel und Jacke griffbereit, falls an Deck Hilfe gebraucht würde. Wir hatten warmen Tee und Linseneintopf vorbereitet und einen Naschteller mit Nüssen, Marzipan, Schokolade und Haribos, den wir bei Schichtende immer für den anderen nachfüllten. Da uns tagsüber der Außenbordmotor einmal ausgegangen war, weil wir nicht rechtzeitig nachgetankt hatten, beschlossen wir, nun strikt nach Zeitplan stündlich zu tanken, immer um Viertel nach.

Als Miriam um 22 Uhr für ihre zweite Schicht an Deck kam, waren schon erste Sterne zu sehen. Wir holten das Vorsegel ein und setzten stattdessen zur Stabilisierung bei Wellen das Großsegel. Zum Segeln war der Wind noch zu schwach. Da die Übergabe etwas länger gedauert hatte, beschlossen wir, den Schichtplan um eine halbe Stunde zu verschieben, sodass Christian bis 0:30 Uhr bessere Chancen auf etwas erholsamen Schlaf hatte. Gegen 23 Uhr spürte Miriam deutlich den Wind im Großsegel. Ob es wohl zum Segeln reichen würde? Sie tankte den Motor zur vorgesehenen Zeit, drehte ihn so weit runter, wie möglich und setzte das Vorsegel. Als Luzie an Fahrt gewann, schaltete sie den Motor ab. Die herrliche Stille kam ihr diesmal noch intensiver vor. Endlich konnte man hören, wie Luzie durchs Wasser zog und die Wellen ans Boot plätscherten. Zunächst fiel Luzie nun ohne den vom Motor generierten Fahrtwind auf unter 2 Knoten ab und Miriam zweifelte kurz an ihren noch jungen Segelkünsten, die sie außerdem noch nie bei Dunkelheit erprobt hatte, ohne den Windanzeiger oder die Form der Segel zu sehen. Dann konzentrierte sie sich ganz auf das Geräusch des Wassers, das jede kleine Geschwindigkeitsänderung verrät, und rief sich Christians Erklärungen zum Trimmen der Segel in Erinnerung. Stückchenweise veränderte sie die Segeleinstellung, beobachtete und horchte auf die Wirkung und korrigierte und war sehr stolz, als die Geschwindigkeitsanzeige bald unser Minimalziel von drei Knoten Reisegeschwindigkeit erreichte und beibehielt.

Christian übernahm ab 0:30 Uhr die erste Schicht in kompletter Dunkelheit und bei wundervollem Sternenhimmel. Man konnte die Milchstraße sehen und ein paar Sternschnuppen kamen vorbei. In der Ferne fuhren nun immer wieder Fähren vorüber. Sie sahen gemütlich aus mit den vielen beleuchteten Fenstern. Bei uns an Deck wurde es langsam feucht-kalt und wir trugen schwere Regensachen, um uns warm zu halten. Wie schnell und komfortabel die gleiche Reise wohl mit so einer Fähre geht! Tauschen wollen wir dennoch keinesfalls mit einem der Touristen an Bord, denn wir würden ja doch nur von der Reling aus sehnsüchtig auf das kleine Toplicht eines Segelbootes blicken. Von 2:30 Uhr bis 4:30 Uhr erlebte Miriam eine ebenso ereignislose, sternenklare Segelschicht. Nur die vielen nachtaktiven Spinnen, ganz besonders die großen Exemplare, die in unserem Heckaufbau und am Seezaun leben, störten etwas die Idylle und verlangten Miriam einiges an Selbstbeherrschung ab. Sie hatte die Kapuze ihres Pullovers eng um ihr Gesicht geschnürt und war froh, dass der Wind weiterhin zum Segeln reichte und sie nicht mehr zum Tanken nach hinten klettern musste.

Ab 4:30 Uhr übernahm wieder Christian und segelte in den Sonnenaufgang hinein. Im ersten Dämmerlicht schlief Miriam zum ersten Mal in dieser Nacht richtig tief ein und Christian ließ sie ausschlafen. Die Zwei-Stunden-Schichten waren recht angenehm gewesen, wenn man am Steuer war, aber zum Ausruhen und Schlafen sehr kurz. Als Miriam aufwachte, stand die Sonne schon hoch und Gotland war bereits in Sicht. Wir hatten über Nacht segelnd an Höhe verloren und mussten nun vor der Küste nochmals kreuzen. Um 15:30 Uhr strichen wir die Segel und fuhren in den Sund ein, wobei wir von den seitlich einlaufenden Wellen kräftig durchgeschaukelt wurden. Um 16:15 Uhr Bordzeit legten wir in der kleinen Marina von Fårösund an. Ausnahmsweise gönnten wir uns am Steg ein echtes Anlegerbierchen. Anschließend stellten wir die Borduhren auf Ortszeit um eine Stunde zurück und spazierten noch eine Runde ins Dorf. Gern hätten wir uns noch ein Stückchen Kuchen gegönnt, aber das Café machte gerade zu. Stattdessen sind wir zurück in die Marina und nach dem Duschen früh ins Bett gegangen. Unsere Überfahrt hat gute 32 Stunden gedauert und wir haben dabei 114 Seemeilen (211 km) zurückgelegt.